Wie geballte Industriekompetenz auf die Ostalb kam

Wie geballte Industriekompetenz auf die Ostalb kam

Autor: Agnes Sperber

1945 brachte die US-Armee Wissenschaftler und Techniker aus der sowjetischen Besatzungszone in den Westen

Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs war die Thüringer Region um Jena noch von der amerikanischen Armee besetzt. Im Angesicht der vorrückenden sowjetischen Truppen entstand der Plan, die intellektuelle und technische Elite der Region der als „Systemfeind“ begriffenen UdSSR vorzuenthalten. Personen, die das Interesse der amerikanischen Militärs weckten, arbeiteten vorrangig an der Universität Jena und bei dem Unternehmen Carl Zeiss. Es bildete mit seiner Herstellung optischer Instrumente einen wichtigen technischen Knotenpunkt.

Von Carl Zeiss in Jena „evakuierte“ die US-Armee im Juni 1945 insgesamt 77 Personen in die Stadt Heidenheim an der Brenz auf der Schwäbischen Alb. Dort hatte der Zweite Weltkrieg wenig Zerstörung hinterlassen: die stabile Infrastruktur, Wohnsituation und Wirtschaft könnten eine attraktive Grundlage für den Neuanfang der eintreffenden Jenaer dargestellt haben. Sicher geklärt ist die Auswahl Heidenheims jedoch bis heute nicht.

Das Unternehmen Carl Zeiss baute mit den rund 20 Konstrukteuren, 30 Wissenschaftlern und jeweils einer unbekannten Anzahl von Betriebsleitern und Verwaltungsbeamten die „Opton Optische Werke Oberkochen GmbH“, heute „Carl Zeiss Oberkochen“ in der Stadt zwischen Heidenheim und Aalen auf.

Während mit ZEISS in Oberkochen eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte begann, war es für die Mitarbeitenden und ihre Familien zuweilen nicht einfach, die abrupt veränderte Lebenssituation anzunehmen. Berichten zufolge geschah die Umsiedelung in einer „Nacht und Nebel-Aktion“, die die Jenaer aus ihrer Heimatstadt und ihrem Umfeld riss. Aus persönlichen Rückblicken geht hervor, dass einige von ihnen mehrmals nach Thüringen zurückkehren wollten.
Nicht nur die individuellen Lebensgeschichten der Jenaer prägte die Aktion der US-Armee auf Jahre – auch im Systemkonflikt zwischen DDR und BRD spielte der sog. „BrainDrain“ immer wieder eine Rolle. So verwies die DDR-Presse regelmäßig auf den systematischen Entzug der Kompetenz aus der Sowjetischen Besatzungszone durch den „imperialistischen“ Gegner USA. Zusätzlich schlug sich die Überführung der Menschen von Jena nach Heidenheim semantisch nieder: Dem im Osten verwendeten Begriff der „Deportation“ stand das von der amerikanischen Besatzungsmacht geprägte Wort „Evakuierung“ gegenüber, das auch einzelne Jenaer in offiziellen Dokumenten verwendeten.

Viele der Exil-Thüringer arbeiteten bis zu ihrer Pensionierung bei Carl Zeiss Oberkochen. Andere schieden aus dem Unternehmen aus und stellten ihre Kompetenz in anderen Bereichen unter Beweis, indem sie sich etwa mit einem Unternehmen selbstständig machten und den eigenen Erfindungsreichtum vermarkteten.

Zu ihnen gehörte der Jenaer Erich Franke (1900– 1965), der mit seiner Frau Anna und dem Sohn Egon im Juni 1945 in Heidenheim ankam. Er hatte zuvor bei Carl Zeiss unter dem für sein Projektionsplanetarium bekannten Techniker Prof. Dr. Walther Bauersfeld an der Weiterentwicklung von Kugellagern gearbeitet. 1934 war Franke bei Zeiss die Erfindung eines in seiner Erscheinung simplen und in seiner Funktion gleichsam genialen Drahtwälzlagers gelungen. Ab 1945 trug Walther Bauersfeld mit seiner Expertise als Chef-Konstrukteur zum Aufbau des Zeiss-Standorts in Oberkochen bei. Erich Franke brauchte er als genialen Denker in seinem Team. Im Wissen um das Potenzial seiner Erfindung bemühte sich Franke parallel zu seiner Beschäftigung bei Zeiss um die Auslösung seines Patents. Als ihm dies 1947 schließlich gelang, war der Weg für die Gründung seines eigenen Unternehmens geebnet. 1948 meldete er es mit seinem Geschäftspartner Gerhard Heydrich in Heidenheim an der Brenz an. Von nun an bestückte Franke nicht nur industrielle Rundstrickmaschinen, sondern auch mikroskopische Untersuchungsinstrumente und zunehmend Computertomographen mit seinen Drahtwälzlagern.

Jüngst konnte die inzwischen in Aalen angesiedelte Franke GmbH stolz auf ihre 75-jährige Firmengeschichte zurückblicken. Dabei ist das in Jena erfundene Drahtwälzlager noch immer Kern des Geschäfts. Nachzulesen ist die ganze spannende Geschichte der Firma Franke GmbH hier. 

Für die Schwäbische Alb stellte die orchestrierte Überführung der Zeiss-Mitarbeiter von Jena nach Heidenheim eine Entwicklung dar, die – wie die Geschichte Erich Frankes veranschaulicht – bis heute die regionale Wirtschaft prägt. Anhand des Phänomens „Brain Drain“ lässt sich die enge Verbindung globaler politischer Verschiebungen mit regionalen wirtschaftlichen Entwicklungen deutlich erkennen. In unserer Arbeit als Firmenhistorikerinnen und Firmenhistoriker analysieren wir diese Zusammenhänge und nehmen sie als Ausgangspunkt für die umfassenden und vielfältigen Recherchen, die wir für unsere Kunden durchführen.

Die thematisch einschlägigen Unterlagen sind im ZEISS Archiv Jena einzusehen.

Eine Geschichte der Standorte des Unternehmens ZEISS finden Sie darüber hinaus hier.