Wer die Geschichte versteht

Wer die Geschichte versteht, findet sich leichter in den Höhen und Tiefen der Gegenwart zurecht

Mehr als 20 Jahre „Firmenhistoriker“ – viel Geschichte und noch mehr Geschichten. Von den kleinen und großen Firmen in der Region aus ganz unterschiedlichen Branchen, von den technologischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Veränderungen. Und immer auch geht es auch um die Geschichte der Menschen, die hier leben und arbeiten. Viele Unternehmensarchive und Firmenjubiläum hat Dr. Rainer Lächele mit seinen Firmenhistorikern in den vergangenen Jahren betreut und dabei so einiges erlebt. Ein Einblick in einen spannenden Beruf.

Seit wann sind Sie Firmenhistoriker?

Seit mehr als 25 Jahren recherchiere und publiziere ich historische Themen. Ich habe in Tübingen und Gießen Geschichte, Evangelische Theologie und Politikwissenschaften studiert, promoviert und auch habilitiert. Selbständig gemacht habe ich mich im Jahr 2001 als freier Historiker, nach einem Jahrzehnt in Forschung und Lehre. Seit der Zeit gibt es D.I.E. Firmenhistoriker in meiner Heimatstadt Aalen. Die ersten Kunden waren öffentliche Versorger, Altenhilfeunternehmen und klassische schwäbische Mittelständler. Im Jahr 2009 folgte dann der Umzug in die Galgenbergstraße in das historische Gemäuer der Aalener Löwenbräu Brauerei. Schon bald vertrauten außerdem Genossenschaftsbanken und Sparkassen uns Firmenhistorikern ihre kostbaren Archive an. Auch Verbände und Kommunen interessierten sich in den vergangenen Jahren zunehmend für unsere Dienstleistungen.

Was fasziniert Sie an der Geschichte der Firmen?

Jedes neue Projekt ist eine neue packende Aufgabe. Es fasziniert mich noch immer herauszufinden, warum die Dinge heute so sind wie sie sind. Der spannendste Punkt für mich ist die Beziehung zu den Menschen. Wir betreuen oft inhabergeführte Unternehmen, bei denen die heutigen Inhaber im verwandtschaftlichen Verhältnis zu den Gründern stehen. Diese Unternehmensgeschichte ist damit auch immer ein Stück weit Familiengeschichte, von den Eltern oder Großeltern.

Geschichte ist nichts, was abgeschlossen ist, sondern es lebt in den Unternehmen weiter bis zum heutigen Tag und darüber hinaus. Das merkt man vor allem am Thema Unternehmensnachfolge. Wird das heute aktuell, so stellt man sich auch die Frage: Wie hat man das früher gemacht? Die historischen Erfahrungen dazu werden tradiert, schriftlich in den Akten, mündlich in der familiären Überlieferung, aber dann auch durch die Erkenntnisse im Projekt.

Was war das wohl Spannendste, das Sie im Laufe Ihrer Arbeit entdeckt haben?

Nach so vielen Jahren in diesem Tätigkeitsgebiet gibt es nicht das eine Erlebnis, sondern viele kleine Fundstücke, jedes für sich ein Highlight. So haben wir im Jahr 2010 eine Ausstellung zum Thema Wasserversorgung vorbereitet. Dabei stießen wir auf Foto mit einer Wasserballmannschaft, schätzungsweise aus den späten 20er Jahre: sportliche Jungs in langen Badehosen. Davor jedoch – und das erstaunte uns zunächst – saßen drei junge Frauen ebenfalls in Badeanzügen und mit Wasserbällen auf den Knien. Das einzige, was sich zunächst aus den Akten rekonstruieren ließ: Es handelte sich um die Wasserballmannschaft eines Polizeibataillons – mehr wussten wir nicht. In der Ausstellung zeigten wir dieses ungewöhnliche Foto und es erkannte tatsächlich ein Besucher eine der Damen auf dem Bild als seine Tante, die erste Frau, die durch den Bodensee geschwommen war. Er konnte uns dann berichten, dass die Damen Mitspieler dieser Mannschaft waren – sowas war in der Weimarer Republik denkbar!

Ein anderes Erlebnis, das in Erinnerung geblieben ist, war die Ausstellung im Jahre 2006 zum Thema „100 Jahre Strom“. Das Projekt stellte uns vor eine gewisse Herausforderung, denn Strom an sich kann man nicht ausstellen. Der Schwerpunkt der Ausstellung lag auf den Bereichen Industrie und Haushalt und der Fragestellung, was die Einführung des Stroms bewirkt hatte. Als erste elektrische Geräte, die in privaten Haushalten zum Einsatz kamen, gab es Tauchsieder, die Beleuchtung im Treppenhaus oder etwa Klingeln. Wir wussten auch, dass es früh schon Bügeleisen gegeben hatte, aber wir hatten keine Exponate. In enger Abstimmung mit der Marketingabteilung des Unternehmens haben wir uns dann für einen Aufruf in der Bevölkerung entschieden und einen Preis für das das älteste Bügeleisen ausgelobt, in der Hoffnung, dass sich so ein Exponat auftreiben ließe. Eine Woche später kam der verzweifelte Anruf der Marketingleiterin: „Ich weiß nicht mehr, wohin mit den Bügeleisen!“ Über 100 Stück waren bei ihr eingetroffen! Wir haben dann die drei besten prämiert, konnten noch weitere Pressearbeit mit der Aktion schaffen – und hatten mit den 100 Bügeleisenbesitzern auch schon gleich weitere Besucher für die Ausstellung gewonnen.

Gibt es eine Branche, mit der Sie am liebsten zusammenarbeiten?

Für den Firmenhistoriker ist praktisch jede Branche spannend, denn es lässt sich in jedem Unternehmen etwas Unbekanntes oder Unerwartetes finden, auch wenn man es vielleicht auf den ersten Blick nicht vermuten würde. Zum Beispiel konnten wir in Projekten mit Banken und Sparkassen sehen, dass dort schon in den 1930er Jahren viele Frauen beschäftigt waren, als Berufstätigkeit von Frauen noch eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Branchenübergreifend zeigt sich in den Projekten immer wieder, welch bedeutende Rolle die jeweiligen Ehefrauen des Inhabers gespielt haben. Oft informell und deshalb nicht immer in den Akten präsent, aber spätestens bei den Zeitzeugeninterviews wird klar, wieviel Firmenpolitik am Mittagstisch betrieben wurde. Und auch die technische Entwicklung ist in jeder Branche überaus interessant. Wenn wir noch mal beim Beispiel Bank bleiben: Angefangen beim Abakus über Rechenmaschinen und die ersten Computer bis hin zum digitalen Kundenkonto – da hat sich über die Jahrzehnte unglaublich viel getan. Das ist natürlich auch für uns sehr faszinierend, denn man lernt nie aus.

Was macht einen guten Firmenhistoriker aus?

Unsere Mitarbeiter sind alles akademisch ausgebildete, teilweise sogar promovierte Historiker. Es ist wichtig, sauber und genau recherchieren zu können. Diesen hohen Anspruch legen wir in jedem Projekt an. Branchenkenntnisse wiederum erwerben wir uns beim Projekt. Vieles, was wir da hinzulernen, ist auch den Mitarbeitern der Gegenwart oft gar nicht mehr bekannt. Wie man zum Beispiel in den 1960er Jahren eine Rechenmaschine bedient hat. Das erfahren wir etwa in den Zeitzeugen-Interviews mit Pensionären – und erstaunen damit oft die heutigen Mitarbeiter. Eine weitere wichtige Fähigkeit, die ein Firmenhistoriker mitbringen muss, ist ein gerüttelt Maß an Kreativität und Offenheit. Es geht ja nicht nur darum, Faktenwissen zu haben oder Belege dazu zu finden, sondern wir wollen auch die Frage beantworten können, wie man das Thema vermitteln kann, etwa wenn es darum geht, eine Ausstellung zu planen oder ein Jubiläumsevent. Das kann dann auch mal gänzlich virtuell sein (siehe hier: Finanzgruppe Sparkassenverband Niedersachsen). Unsere Projekte sind alle unterschiedlich und erfordern jeweils neues Denken. Ebenfalls wichtig – natürlich – die Teamfähigkeit, da unsere Kollegen in unterschiedlichen Teamzusammensetzungen zu den Projekten gehen.

Worin liegt Ihrer Meinung nach die größte Herausforderung, auch in Zukunft Firmengeschichte zu bewahren?

Die Digitalisierung wird unsere Arbeit verändern, aber nicht überflüssig machen, davon bin ich überzeugt. Firmen produzieren ihre Unterlagen nicht mehr auf Papier, sondern immer mehr digital. Aber auch die digitalen Unterlagen müssen auf lange Sicht archiviert werden, damit das Wissen nutzbar bleibt. Auch wenn die Akten zukünftig „nur“ noch virtuell vorhanden sein sollten, müssen sie strukturiert und zukunftsfähig aufbewahrt werden. Da ist auch noch nicht über jeden Themenbereich nachgedacht worden. Wie etwa bewahrt man Bilder auf? Im alltäglichen Gebrauch werden Bilder oft als jpgs gespeichert, gängig und von der Dateigröße auch händelbar. Zukunftssicher archivieren wir Bilder aber als tiffs. D.h. wir wandeln alle Bilder, die wir in den Firmenarchiven vorfinden, in dieses Bildformat um und wählen natürlich auch langfristig abrufbare Speichermedien aus.

Im staatlichen Bereich gibt es bereits Regularien für die Aufbewahrung von elektronischer Korrespondenz, aber für die Privatwirtschaft muss noch über vieles nachgedacht werden. Wie geht man mit flüchtigen Emails um? Welche werden gelöscht, welche gespeichert und wie geordnet? Was bleibt von Messenger-Korrespondenz oder den Kontakten in Social Media? Was macht man mit alten Webseiten, die nicht mehr im Netz verfügbar sind, aber dennoch ein Stück Unternehmensentwicklung widerspiegeln? Da gibt es noch viele offene Fragen und sicherlich auch noch viele und vielfältige Tätigkeitsgebiete für den Firmenhistoriker.

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